Die Atom-Deal-Manipulation

Hinterfragen wir den medialen Hype einmal technisch.

Das Wirrwarr, das durch Netanjahus Powerpoint-Präsentation über Irans angebliche Atom-Lügen und den Ausstieg Trumps aus dem Atomabkommen mit dem Iran entstanden ist, kennt keine Grenzen. Was ist denn da los? Es ist nicht neu, dass die hohe Politik das, was man gesicherte Erkenntnis nennt, komplett ignoriert. Mir fehlt der technische Grund für die sich schon lange ankündigende, offenbar erwünschte Eskalation. Davon soll hier die Rede sein. Rufen wir uns doch mal ins Gedächtnis zurück, was wir über Atome und Atomprogramme wissen.

Die heutige, weltweite Verfügbarkeit der Kernenergie geht zum größten Teil auf das Manhattan Project in den Jahren 1942 bis 1945 zurück, die von den USA betriebene Entwicklung der Atombombe. Hier kam es zum „Scale Up“, der verfahrenstechnischen Maßstabsvergrößerung kernchemischer Prozesse aus dem Labor in den Kilogramm- und Tonnenbereich.

Kurz vor dem Ende des zweiten Weltkriegs im August 1945 wurde das Resultat nach nur einem Test von den USA zur nuklearen Einäscherung von Hiroshima und Nagasaki eingesetzt. Strategisch war das sinnlos – zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass die Japaner in Kürze kapitulieren würden. Vielleicht nur, um dem sowjetischen Diktator Stalin machtvoll zu zeigen, wer in Zukunft die Führungsrolle auf dem Globus beanspruchte, wurden durch diese beiden Einsätze von Kernwaffen durch die USA einige hunderttausend Menschen ermordet oder zu lebenslangem Leiden verdammt.

Kurz vor dem Krieg, 1938, hatten Otto Hahn und Fritz Straßmann in Berlin die Kernspaltung am Labortisch entdeckt. Dafür gab es 1944 den Nobelpreis, was allerdings erst nach dem Untergang des Hitler-Regimes und der Entlassung Hahns aus englischer Internierung bekannt gegeben wurde. Das theoretische Verständnis für Hahns Beobachtungen lieferten seine langjährige Kollegin Lise Meitner und deren Neffe Otto Frisch. Frisch wiederum stellte zusammen mit Rudolf Peierls 1940 erstmals die Möglichkeit in den Raum, eine aus der Luft abgeworfene Atombombe zu bauen – die initiale Idee für diese perverse Massenvernichtungswaffe kommt aus Europa, genauer: aus dem deutschsprachigen Raum.

Das Manhattan Project war ein monströser Aufwand, vielleicht das größte militärtechnische Entwicklungsprojekt aller Zeiten. Führende Köpfe wurden unter der wissenschaftlichen Leitung von Robert Oppenheimer und unter strengster Geheimhaltung in Los Alamos, New Mexico zusammengezogen. Geld spielte keine Rolle.

Die Bombe war dennoch bis zum Kriegsende in Deutschland im Mai 1945 nicht einsatzbereit – ein Grund, wieso Deutschland dem japanischen Schicksal denkbar knapp entging. Auch in Deutschland gab es indes Bestrebungen, eine Atombombe zu bauen. Diese waren aber aus Mangel an Mitteln und Fachkräften nicht erfolgreich.

Russland zündete 1949 seine erste Atombombe. Eine ähnliche Entwicklung wie das Manhattan Project, unterstützt von gewissen geheimdienstlichen Aktivitäten, ging dem voraus. Spätere Entwicklungen führten zur noch verheerenderen Wasserstoffbombe und zum bekannten Wettrüsten der Supermächte. Die mehrfache Auslöschung der Menschheit ist heute technisch möglich.

All das hat nichts mit dem Iran zu tun.

Ein technischer Exkurs: Wie spaltet man Atomkerne?

Nicht schwierig: Man nehme spaltbare Atomkerne, das sind ein paar von der ganz schweren Sorte, zum Beispiel das Metall Uran 235. Früher oder später führt der zufällige Zerfall eines Atomkerns zur Emission eines Neutrons. Dieses Neutron kann einen anderen spaltbaren Atomkern in zwei ungefähr gleich große Hälften zerteilen, wodurch enorm viel Energie und weitere Neutronen frei gesetzt werden.

Fügt man genügend spaltbares Material zur „kritischen Masse“ zusammen, so kommt es – weil dann ausreichend viele Neutronen auf ausreichend viele spaltbare Kerne treffen – zur Kern-Kettenreaktion unter gewaltiger Energiefreisetzung. Fügt man diese kritische Masse aus zwei unterkritischen Massen in einem Behälter zusammen, der so konstruiert ist, dass die Kettenreaktion über möglichst viele Stufen erhalten bleibt, kommt es zur nuklearen Explosion – das Prinzip der Atombombe. Drosselt man diese Kettenreaktion dagegen durch geschickte Verfahrenstechnik so, dass man die entstehende Energie über längere Zeit zur kontinuierlichen Gewinnung von heißem Dampf nutzen kann, dann betreibt man ein Kernkraftwerk.

Für eine Kernreaktion muss man das spaltbare Material in der Praxis anreichern, weil sonst die Kernkettenreaktion nicht zustande kommt oder wieder einschläft. Für den Bau einer Bombe muss man es sehr stark anreichern, damit der nötige, nukleare Lawineneffekt auf kleinstem Raum stattfinden kann. Auch mit nicht angereichertem Uran lässt sich eine Kettenreaktion herbeiführen. Man braucht dazu neben größeren Mengen Uran noch ein Medium, das Neutronen auf dem Weg zum nächsten spaltbaren Kern abbremst, wozu sich unter anderem „schweres Wasser“ eignet.

Der Weg zur Freisetzung der Kernenergie, ob nun in Kraftwerken oder Atomsprengköpfen, hängt unabdingbar von der Beherrschung des Anreicherungsprozesses, der Trennung radioaktiver Isotope, ab. Das Produkt dieses Prozesses ist im Falle des Atomkraftwerks die Substanz in den Kernbrennstäben, im Falle der Atombombe hochangereichertes, spaltbares Material.

Die erste Atombombe mit dem christlichen Namen Trinity (deutsch: Dreifaltigkeit) wurde im Juli 1945 oberirdisch in New Mexico gezündet und war eine Plutoniumbombe. Plutonium gibt es schlicht und einfach nicht in ausreichender Menge auf der Erde. Es musste und muss erst in einem Kernreaktor aus natürlichem Uran „erbrütet“ werden. Das hatte man während der Entwicklung der Atombombe noch in geheimen Hallen ohne den für Atommeiler typischen, meterdicken Schutzmantel bewerkstelligt, sicher auch, weil man damals noch nicht wusste, welche verheerenden Folgen Radioaktivität mit sich bringt.

Unabgeschirmte, kontrollierte Kettenreaktion und die anschließende Extraktion des Plutoniums im chemischen Verfahren dürfte für etliche Mitarbeiter erhebliche gesundheitliche Konsequenzen, von akuter Strahlenkrankheit bis hin zu verfrühtem Tod zum Beispiel durch Leukämie, mit sich gebracht haben. Mit dem heutigen Wissen wären viele von ihnen damals wohl nicht zur Arbeit erschienen.

Die nötige Technologie zur Anreicherung von Kernbrennstoffen ist längst weltweit bekannt. Vielstufige Gaszentrifugen schleudern eine gasförmige Verbindung der schweren Urankerne per Fliehkraft nach außen und reichern so im Zentrum der Zentrifuge das leichtere, spaltbare Uran-Isotop mit der Massenzahl 235 an. Die chemische Extraktion von Brennstäben, die bereits in einem Atomkraftwerk abgebrannt sind, führt auf das ebenfalls spaltbare Plutonium, das in jedem aktiven Kernreaktor der Welt aus dem häufigsten Uran-Isotop mit der Massenzahl 238 erbrütet wird. Man kennt den Vorgang als Wiederaufarbeitung, Chemiker nennen es insbesondere in der Analytik einen Trennungsgang. Uran 238 wird durch Einfangen eines Neutrons nicht gespalten, sondern zu Uran 239, welches sich dann freiwillig durch zwei Beta-Zerfälle mit kurzen Halbwertszeiten, also unter erheblicher Emission von radioaktiver Strahlung zu Plutonium 239 umwandelt.

Die Anreicherung der spaltbaren Isotope ist beherrschte Technik, die freilich durch den Umstand erheblich erschwert wird, dass die meisten beteiligten Stoffe außerordentlich giftig und zudem radioaktiv sind. Das Ganze ließe sich wegen der Größe der nötigen Anlagen und der aufwändigen Schutzmaßnahmen kaum geheim halten.

Zurück zum Iran.

Der Iran verfügt, neben kleineren, eigenen Uranvorkommen, zumindest theoretisch längst über alle Erkenntnisse und Anlagen zum Betrieb von Atomkraftwerken und zum Bau von Atombomben. Entsprechende neue Aktivitäten scheinen bisher im Falle Irans lediglich in den zwei Regalen voll Aktenordnern und Daten-CDs dokumentiert zu sein, die Netanjahu unlängst der Welt präsentierte. Die IAEA widersprach dem israelischen Ministerpräsidenten bekanntlich postwendend. Bis heute lautet die Formulierung in allen Drohszenarien, der Iran „könnte“ sein Atomprogramm wieder hochfahren. Das hat der Iran aber noch nicht getan. Und wenn?

Der Atom-Deal mit dem Iran handelt im Grunde davon, dass sich der Iran nicht aus eigener Kraft die Verfahrenstechnik zur Anreicherung von spaltbarem Material verschaffen darf. Doch was ist daran eigentlich so besonders? Deutschland macht das in der Anlage in Gronau doch auch, sogar im großen Stil, genau wie viele andere Länder, die nicht notwendigerweise Bomben produzieren. Der Iran betreibt mit Buschehr am persischen Golf ein Kernkraftwerk, das genau wie alle anderen in der Welt kontinuierlich Strom, Atommüll und erbrütetes Plutonium erzeugt.

Nur die Brennstäbe stellt man bislang nicht im Iran her, sondern kauft sie auf dem Weltmarkt. Ursprünglich wurde der Bau des Kraftwerks Buschehr irgendwann in den 1970ern von Siemens, AEG und KWU mehr oder minder baugleich mit dem deutschen Kernkraftwerk Biblis begonnen und dann viel später nach golfkriegs- und revolutionsbedingten Baustopps mit russischer Technologie und Hilfe fertig gestellt. Das erste iranische Atomprogramm war nur mit dem Sanktus der Amerikaner unter dem Regime von Schah Reza Pahlavi zu machen, und unter anderem deutsche Firmen führten es vor Ort aus. Schon seit dieser Zeit dürfte es im Iran etliche Experten geben, die über Nukleartechnik umfassend im Bilde sind. In Arak wird mit Technologie, die schon im zweiten Weltkrieg von Norsk Hydro verwendet wurde, schweres Wasser produziert.

Daneben entsteht ein Schwerwasserreaktor. Von der Inbetriebnahme dieses verfahrenstechnisch logischen Anlagenparks handelt ein guter Teil des Atomabkommens. Es scheint nicht weiter zu stören, dass der Iran längst, wie viele andere Länder, Nukleartechnik nutzt und sich in die lange Liste der Erzeuger nuklearen Abfalls eingereiht hat. Der Argwohn der USA resultiert aus den Bestrebungen des Irans, dies komplett aus eigener Kraft zu tun.

Wer ein Atomkraftwerk hat, der erzeugt auch Plutonium. Und wer Plutonium hat, der kann auch eine Bombe bauen. Die Frage ist: Tut der Iran das? Oder wieso tut er es nicht? Und wieso kommt man in den USA und Israel ausgerechnet jetzt darauf? Für den Iran real sind schon heute die sonstigen Risiken der Kernkraft: Erdbeben, Krieg, betriebsbedingte Havarie.

Die am Golf eingesetzte Technik ist genauso „sicher“ wie Fukushima oder Philippsburg. Neben dem Risiko durch Naturkatastrophen kommt ein Risiko durch die Bombardierung des Reaktors in Frage, womit man zweifellos einen Teil des persischen Golfs für Generationen unbewohnbar machen könnte. Genau wie Tschernobyl und Fukushima, nur eben durch konventionelle Bombardierung. Auch könnte man Atommüll aus jedem Reaktor der Welt als schmutzige Bombe per konventionellem Sprengstoff zerstäuben. Es gibt also diverse Horrorszenarien, die schon heute ohne großen Aufwand zu realisieren sind. Das hat bis jetzt nur noch kein Land der Erde und auch keine Terrorgruppe getan.

Wieso ausgerechnet…?

Welche Nationen hantieren denn heute überhaupt militärisch mit Material aus der Kernchemie? Wer Uran anreichert, produziert zwangsläufig auch abgereichertes Uran. Depleted Uranium (DU) ist radioaktiv; es wurde und wird wegen seiner extrem hohen Dichte als Material für Wuchtgeschosse eingesetzt. Projektile aus DU sind deutlich schwerer als Blei. Man erinnert sich an den Kosovo und den Irak. Eingesetzt haben DU in diesen beiden Fällen nicht etwa die Mullahs oder böse Diktatoren, sondern Betreiber der Uran-Anreicherung, also die USA und ihre Verbündeten.

Auch die MILAN-Rakete, ein deutsch-französischer Rüstungs-Exportschlager, der auch schon Kanzlerin Merkel freudige Emotionen entlockt hat, enthält ein wenig radioaktives Thorium, zu dessen Gewinnung man chemische Prozesse mit radioaktiven Substanzen beherrschen muss. Der Hersteller sitzt nicht im nahen oder mittleren Osten.

Der Iran, der in den letzten 250 Jahren keinen anderen Staat überfallen hat, hat bislang weder uranhaltige Munition benutzt noch andere kernchemische Erzeugnisse militärisch eingesetzt. Der Einsatz einer iranischen Atombombe wäre geostrategischer Blödsinn. Deutschland exportiert derweil weiter, und wenn’s mal ein radioaktives Produkt sein darf, ist das offenbar auch nicht weiter schlimm.

Fazit aller Betrachtungen: Die Betreiber und Profiteure wahrlich bedeutender Atomprogramme sitzen nicht am persischen Golf.

Es bleiben viele Fragen

Was soll also die ganze Aufregung über die Nutzung kernchemischer Erzeugnisse durch einen angeblichen Schurkenstaat, den in einiger Hinsicht durchaus modernen Iran? Wer deutet da auf wen? Ist wirklich die iranische Atombombe die große Gefahr? Ist die Atombombe überhaupt ein sinnvolles Mittel, Vorherrschaft zu sichern oder gar andere Länder zu unterjochen – eine Absicht, die Israel und Saudi-Arabien dem Iran ja unterstellen? Will man anstelle der Mullahs wieder einen Schah per Regime Change installieren, der so lange westliche Werte hoch hält, bis eine islamische Revolution den kapitalistischen Traum beendet? Ich dachte, das hätte schon einmal nicht geklappt.

War die militärische Durchsetzung der Demokratie in Libyen, Syrien, Afghanistan so erfolgreich, dass man das im Iran unbedingt auch machen sollte? Hat Trump politisch mehr davon, ein großer, weltweit erfolgreicher Kriegsherr zu sein als der kurzfristige Lover einer Porno-Queen aus Baton Rouge? Will Netanjahu noch schnell auf Teufel komm raus Geschichte schreiben, bevor ihn die anhängigen Korruptionsvorwürfe aus dem Amt befördern?

Treibt gar das Interesse der westlichen Wertegemeinschaft am iranischen Öl und Gas, die fortgesetzte Umklammerung Russlands, die Vorherrschaft des pro-westlichen saudischen Königshauses am persischen Golf die Begehrlichkeiten an der Destabilisierung des Mullah-Regimes? Es gäbe ein Motiv: Die meisten westlichen Länder haben längst keine nennenswerten eigenen Ölvorkommen mehr – und nein, Fracking ist dafür nicht nur aus meiner Sicht keine Lösung.

Zuletzt: Was an der von Israel, Saudi-Arabien, den USA, Frankreich und England betriebenen und von Deutschland kaum kritisierten Eskalation der Außenpolitik gegen den Iran und seine Schutzmächte Russland und bald auch China könnte auch nur ansatzweise nachhaltig durchdacht sein?

( Dieser Beitrag erschien am 29.06.2018 auf Rubikon )